
Daniel sitzt ein wenig verloren und ängstlich in einer Ecke des himmlischen Konzertsaals. Es ist gerade Probe. Generalprobe. Es geht um einen wichtigen Auftritt. Ein wichtiger Auftritt und ein ganz besonderer Auftritt. Die himmlischen Sängerknaben wollen den weltweit ersten Flashmob aufführen. Naja, noch wissen sie nicht, dass man das einmal so nennen wird. Auf jeden Fall aber wird es eine himmlische Überraschung werden. Da sind sie alle sicher. Seit 9 Monaten probieren sie nun dafür. Eigentlich macht er nichts lieber, als mit den anderen singen. Aber jetzt hat er das wohl verspielt.
Er ärgert sich. Am meisten über sich selbst. Warum kann er sich auch nicht beherrschen. Imme wieder passiert ihm das, dass er seine Neugier nicht im Zaum hat. Und dann steckt er seine kleine vorwitzige Nase in lauter Dinge, die ihn nichts angehen. So war es jetzt auch wieder.
Dieser Flashmob, für den sie proben, der ist streng geheim. Keiner soll wissen, wo sie auftreten werden. Die Gefahr ist zu groß, dass sich irgendein Engel auf einer Reise zur Erde verplappert. Also wissen es nur wenige. Der eine Engelschef, Gabriel, der weiß es. Und natürlich Michael. Aber so ein kleiner Naseweis wie der kleine Daniel, der darf es natürlich nicht wissen.
Klar, dass das Daniel herausfordert. Und so schlendert er immer wieder ganz dicht bei Gabriel und Michale vorbei, wenn die miteinander reden. Er tut ganz unbeteiligt und gelangweilt. Aber in Wahrheit hat er seine Ohren gespitzt und ist begierig etwas zu erfahren. Und tatsächlich: er hört etwas von der Herberge „zum lebendigen Brot“ in Bethlehem. Und, dass dort der Sohn von Gott geboren werden soll. Dass ihr Singen ein Lobpreis werden soll, weil Gott auf die Welt kommt, um dort unter den Menschen zu leben.
Ja, jetzt weiß er es. Aber damit ist seine Neugier noch nicht gestillt. Er muss da hin. Er muss den Ort auskundschaften und herausfinden, wo er vielleicht am besten stehen kann. Damit er auch richtig Eindruck machen kann bei den Menschen. Und damit er den möglichst besten Blick auf das Ganze hat.
Also ist er gestern Abend heimlich losgeflogen auf die Erde. Alles ging so weit gut. Er hat sich den Stall angesehen. Das Wirtshaus, zu dem der Stall gehört. Den großen Schlafraum. Er hat es sich alles gut überlegt: Oben, in den Stützbalken von dem Heuboden. Da will er sitzen. Keiner hat ihn bei seinem Rundflug gesehen. Prima.
Einmal kurz Probesitzen. Ob das auch wirklich so geht, wie er sich das vorstellt? Aber halt! Er will ja singen. Dazu wird er stehen. Also richtet er sich vorsichtig auf und stellt sich auf den Balken. Und da passiert es: Er bleibt mit den Federn an seinem rechten Flügel an einem abgesplitterten Stück Holz hängen. Er erschrickt, reißt sich los, und es tut höllisch weh. Er sieht, wie sich sein Flügel rot verfärbt. Er blutet. Vor lauter Ärger dreht er sich rum, und bleibt jetzt mit dem anderen Flügel hängen. Auch dort reißt es ihm eine Feder heraus. Wieder durchfährt ihn ein Schmerz. Der nächste Blutfleck. Jetzt erst mal Luft holen. Durchatmen.
Er macht sich klein und kauert sich hin. Da durchfährt ihn der nächste Schreck. Er sieht er durch einen Spalt in der Holzwand, wie draußen der Engel Gabriel vorbei geht. Was macht der denn hier? Sehr aufmerksam schaut Gabriel in Daniels Richtung. Ob er etwas gehört hat? Ob er ihn am Ende sogar gesehen hat.
Daniel schämt sich furchtbar. Und er hat Angst. Er sollte nicht hier sein. Und er sollte nichts wissen. Mit seiner Neugier hätte er fast das ganze himmlische Unternehmen „Flashmob Heilige Nacht“ aufs Spiel gesetzt. Gottseidank haben die Menschen nichts gemerkt. Aber Gabriel… Ob der ihn gesehen hat?
Den ganzen Tag schon kämpft Daniel mit sich. Soll er Gabriel ansprechen? Gabriel selber sagt nichts. Ist also alles nur falscher Alarm? Daniel bleibt die Scham. Er wird sie nicht los. Auch jetzt nicht.
Er hat einmal einen Psalm gelernt. Darin war eine Frage: Wer darf auf des HERRN Berg gehen, und wer darf stehen an seiner heiligen Stätte? Und der Psalm hatte auch die Antwort: Wer unschuldige Hände hat und reinen Herzens ist, wer nicht bedacht ist auf Lüge und nicht schwört zum Trug: der wird den Segen vom HERRN empfangen und Gerechtigkeit von dem Gott seines Heiles.
Unschuldige Hände hat er nicht mehr. Er sitzt hier in der Ecke des Konzertsaales. Er ist sich sicher: Sein Platz kann nicht mehr in dem himmlischen Chor sein. Er muss froh sein, wenn er nicht weggeschickt wird. Nach allem was er gestern angestellt hat. Er betastet seine verletzten Flügel. An diesen Wunden wird sein Versagen für alle sichtbar.
Wie er sich schämt.
„Na, Daniel?“ eine freundliche Stimme ist hinter ihm zu hören. Eine Hand legt sich auf seine Schulter. Dann streichen Hände über seine Wunden.
„Na? Willst Du heute nicht singen?“
Daniel schluchzt kurz auf und schüttelt den Kopf. Er bleibt stumm. Denn wenn er jetzt sprechen würde, würde er anfangen zu weinen.
Gabriel setzt sich neben ihn. Eine Weile spricht keiner von ihnen.
Dann fängt Gabriel auf einmal an zu reden:
„Manchmal hat man den Eindruck, man macht alles falsch. Ich war so stolz, dass Gott mir sein großes Geheimnis anvertraut hat. Mir und Michael. Und wir hatten fest vor es gut zu verwahren. Aber vor lauter Stolz, dass wir es wissen durften, mussten wir immer wieder davon reden. Und so haben wir vielleicht den einen oder anderen kleinen Engel in Versuchung gebracht, uns auszuspionieren.
Und ich frage mich jetzt, was Gott wohl über mich denkt. Er hat mir doch so vertraut. Ich habe schon überlegt, ob ich mit meinem Stolz der Richtige bin für diese Aufgabe bei der geplanten himmlischen Überraschung. Ich kam mir auf einmal so überheblich vor.
Aber vorhin kam Gott zu mir und sagte mir so aus heiterem Himmel:
Jünglinge Straucheln, Männer fallen, aber die auf den Herrn vertrauen, die bekommen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie ein Adler: Diesen Satz von Jesaja, den finde er einfach wunderschön. Und genau darum ginge es bei der Überraschung: Die Menschen sollen Mut bekommen aufzustehen – auch wenn sie mal was falsch machen.
Was meinst Du? Gilt das nicht auch für uns?“
Daniel nickt. Er muss schlucken.
Dann klopft ihm Gabriel auf sein Knie und sagt:
„Komm, lass uns zu der Probe gehen.
Ich freue mich darauf, dich singen zu hören!“
Figur: Monika Jung, Hinterbacher Str. 21; 64760 Oberzent – Finkenbach www.monis-holztraeume.de
| Text: Reinhold Hoffmann Odenwälder Landstr. 1 64760 Oberzent - Rothenberg
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